Es ist einer der größten Skandale der Musikgeschichte: Die Uraufführung des Balletts „Le Sacre du Printemps“ am 29. Mai 1913 gerät völlig außer Kontrolle. Das Publikum tobt vor Wut und wird handgreiflich, die Polizei muss einschreiten, der Komponist verlässt wütend die Vorstellung. „Fahrt zur Hölle“, soll Igor Strawinsky gesagt haben, als er kurz nach dem Beginn aus dem Saal des Théâtre des Champs-Élysées in Paris stürmt. Was war geschehen?
„Die Frühlingsweihe. Bilder aus dem heidnischen Russland in zwei Teilen“ lautet der Titel des Stücks, das die Ballets Russes an diesem Abend auf die Bühne bringen. Die russische Tanztruppe unter der Leitung ihres Impresarios Sergei Djagilew war in Paris keineswegs unbekannt. Bereits in den Jahren vor der Skandalnacht 1913 hatten die Tänzerinnen und Tänzer mit Balletten große Erfolge feiern können, darunter mit Stücken wie „Der Feuervogel“ und „Petruschka“ – beides Werke eines noch recht unbekannten Komponisten: Igor Strawinsky.
Mit dem Plan, an die ersten Erfolge anzuknüpfen, widmet sich Strawinsky 1911 der Idee zum „Sacre“, die er schon seit geraumer Zeit mit sich herumträgt. Ihm geht es nicht mehr darum, eine Geschichte oder Handlung zu erzählen. Er möchte Naturgewalten und ihre Wirkung auf den Menschen darstellen. Der einst „romantische“ Frühling wird zur rohen Urkraft umgedeutet. Im Zentrum des „Sacre“ steht der Todestanz eines jungen Mädchens, das dem Gott des Frühlings geopfert werden soll, um diesen günstig zu stimmen. Vorchristliche russische Mystik und das Interesse am Heidnisch-Exotischen üben auf das Pariser Publikum eine gewisse Anziehungskraft aus. Doch völlig neu ist Strawinskys Herangehen an den Ausdrucksgehalt der Musik und die Behandlung des Orchesters: wilde Rhythmen, kaum Melodien oder sangliche Themen, scharfe Dissonanzen, schnelle und abrupte Taktwechsel – all das zieht dem Publikum den Boden unter den Füßen weg, lässt es orientierungslos zurück. Die Musik ist roh, zupackend und voll energiegeladener Spannung. Sogar das gesamte Orchester wird stellenweise zu einem großen Schlaginstrument. Mit einem Ruck stößt Strawinsky die Tür in die Moderne weit auf. Hinzu kamen schließlich noch die rustikalen Kostüme und eine unerhört provozierende Choreografie des virtuosen Tänzers Vaslav Nijinsky: Abgehackte und zuckende Bewegungen, Verrenkungen der Gliedmaßen, primitives Stampfen – mit Ballett hatte das in den Augen und Ohren des Pariser Publikums nichts mehr zu tun. Das Zusammenspiel aus grausamer Handlung, provokanter Umsetzung und einem noch nie dagewesenen Ausdrucksgehalt der Musik überforderte das Publikum.
Strawinsky erinnert sich später: „Was die aktuelle Aufführung anging, kann ich darüber nicht urteilen, da ich den Saal gleich bei den ersten Sätzen des Préludes verließ, was sofort zu höhnischem Lachen führte. Ich revoltierte. […] Natürlich konnten die armen Tänzer durch den Kampf im Auditorium und ihre eigenen Schritte nichts hören. Ich musste Nijinsky an den Kleidern festhalten, er war völlig aufgebracht und jeder Zeit bereit, auf die Bühne zu stürmen und einen Skandal zu verursachen. In der Hoffnung, den Tumult zu stoppen, veranlasste Djagilew die Elektriker dazu, das Licht auszuschalten.“
Und doch geht die Geschichte am Ende gut aus. Der Schock der Uraufführung ist überwunden und Strawinskys revolutionäres Skandalwerk ist aus dem Konzertleben nicht mehr wegzudenken. Die Energie und die Intensität dieser eindrucksvollen Musik packen ihre Hörer noch immer und lassen sie jedes Mal atemlos zurück.
Philipp Leibbrandt
K 81 | 28.7. | Fr. 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden, Friedrich-von-Thiersch-Saal
Martin Grubinger, Perkussion
Ferhan & Ferzan Önder, Klavier
Alexander Georgiev, Perkussion
Jürgen Leitner, Perkussion
K 139 | 23.8. | Mi. 20 Uhr
Kurhaus Wiesbaden, Friedrich-von-Thiersch-Saal
Sheku Kanneh-Mason, Violoncello
Aurora Orchestra
Nicholas Collon, Leitung
K 140 | 24.8. | Do. 19 Uhr
Schloss Johannisberg, Fürst-von-Metternich-Saal
Lucas & Arthur Jussen, Klavier