Fokus: Jan Lisiecki

„In der Musik sind wir alle zusammen“

Foto © Dorn Music

 

In diesem „Sommer voller Musik“ widmen wir dem polnisch-kanadischen Ausnahmepianisten Jan Lisiecki als Fokus-Künstler einen Schwerpunkt. In gleich fünf Konzerten wird er mit unterschiedlichen Programmen im Rheingau zu erleben sein und Einblicke in sein facettenreiches Spiel geben. Wir habe ihn vorab zu einem Interview getroffen.

© Christoph Köstlin/DG

Lieber Herr Lisiecki, wir freuen uns, Sie beim Rheingau Musik Festival als einer unserer Fokus-Künstler besonders oft erleben und hören zu dürfen. Was hoffen Sie dem Publikum in den verschiedenen Konzerten mitgeben zu können?

Ich freue mich sehr darauf, dem Publikum des Rheingau Musik Festivals, das ich sehr schätze, ganz unterschiedliche Programme zu präsentieren. Diesmal spiele ich auch die beiden Klavierkonzerte von Chopin, die ich sehr liebe. Ich glaube, dass sie mit dem Norwegian Chamber Orchestra, das mit so viel Hingabe und Leidenschaft bei der Sache ist, bemerkenswert klingen werden. Die Musikerinnen und Musiker kennen die Partitur in- und auswendig und wissen, wie man zeigen kann, was diese Konzerte zu bieten haben. Gemeinsam werden wir die Musik für das Publikum zum Leben erwecken.
Die Aufführung aller fünf Beethoven-Konzerte ist ein gewaltiges Unterfangen und ein einzigartiges Erlebnis für das Publikum. Man kann wählen, ob man nur einige seiner Lieblingswerke hören will, oder den gesamten Zyklus. Den kompletten Zyklus zu erleben ist aber deswegen einzigartig, weil man ein alleinstehendes Konzert nie auf dieselbe Weise hört. Ich liebe es, diese Erfahrungen auch selbst zu machen, weil man ganz anders versteht, was jedes Stück innerhalb des Gesamtwerkes des Komponisten bedeutet. Man kann es für sich selbst dann besser einordnen. Gemeinsam mit den Musikern des Chamber Orchestra of Europe wird das eine unglaubliche Erfahrung werden.
Mein Solo-Rezital ist ein interessanter Kontrast zwischen Frédéric Chopins Etüden und Nocturnes. Es ist eine Reise durch die Nocturnes, aber eine, die einen Bogen schlägt, und ich denke, die zwei Stunden Musik sind fesselnd. Es ist für das Publikum sehr einnehmend, und das ist für mich persönlich das Wichtigste, wenn ich bei einem Soloabend allein auf der Bühne bin.
Ich freue mich auch sehr auf die Zusammenarbeit mit Julia Fischer, die ja wie ich auch Fokus-Künstlerin in diesem Jahr ist, und darauf, gemeinsam in einer wunderschönen Umgebung etwas für das Publikum zu erschaffen. Auch freue ich mich darauf, das Publikum mal auf eine andere Art und Weise anzusprechen, und zwar mit zwei Solisten, von denen jeder seine eigene Sichtweise einbringt, die aber im Sinne des Zusammenhalts an einem Abend ihre beiden Perspektiven und vielleicht auch unterschiedliche Spielstile vereinen. Wir werden sehen! Ich bin sehr gespannt!

Wie Sie erwähnten, werden Sie beim Rheingau Musik Festival unter anderem alle fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven mit dem Chamber Orchestra of Europe und beide Klavierkonzerte von Frédéric Chopin mit dem Norwegian Chamber Orchestra spielen und dabei die Orchester vom Klavier aus auch leiten. Worin liegt der Unterschied, wenn man keinen Dirigenten dabei hat, sondern als Pianist auch die Leitung übernimmt?

Idealerweise fühlt man die Musik als eine Einheit, wenn man gemeinsam musiziert. Man empfindet die gleichen Emotionen, man hat das gleiche Ziel oder man spielt sich gegenseitig zu, aber letztlich steht man immer in einer symbiotischen Beziehung. Mit Orchestern wie dem Chamber Orchestra of Europe oder dem Norwegian Chamber Orchestra lässt sich dies leicht erreichen, da beide Orchester unglaublich aufmerksam aufeinander und auf den Solisten hören. Das erzeugt ein ganz anderes Ergebnis, als wenn jemand von oben den Vorsitz führt. Manchmal braucht man das natürlich, aber nicht in diesem Fall, wenn die Musik dem Orchester so gut bekannt ist, wie die Beethoven-Konzerte dem Chamber Orchestra of Europe.
Die Chopin-Konzerte kenne ich wiederum sehr gut. Es sind Stücke, die mich seit Jahren mit Herz und Seele begleiten. Ich habe so viel von großen Musikern, Dirigenten, Orchestern auf der ganzen Welt und auch von mir selbst darüber gelernt wie man sie am besten interpretiert, sodass ich inzwischen eine sehr spezifische Vorstellung habe. Ich erwarte, dass dieses Orchester – das so wunderbar ohne einen Dirigenten zu spielen vermag – mich auf dieser Reise begleitet, ohne dass ich sie tatsächlich physisch führen muss – ohne dass ich mit Worten oder auch musikalisch ein Zeichen geben muss. Zuhören ist der Schlüssel in jeder musikalischen Beziehung, und es wird umso wichtiger, wenn man jemandem nicht permanent mit den Augen folgen kann. In einem intimen Rahmen und mit einer kleineren Gruppe, die so gut zuhören kann wie das Chamber Orchestra of Europe oder das Norwegian Chamber, können wir dieses Ideal erreichen.

© Christoph Köstlin/DG

Es steht außerdem eine Premiere an in diesem „Sommer voller Musik“: Sie werden das erste Mal gemeinsam mit Julia Fischer, die in diesem Jahr ebenfalls Fokus-Künstlerin des Festivals ist, mit einem Kammermusik-Programm auf der Bühne stehen. Ist die Vorbereitung eine andere, wenn Sie noch nicht mit dieser Duopartnerin zusammengespielt haben? Wie wird das Programm für einen solchen Abend zusammengestellt?

 Meine Herangehensweise an die Arbeit mit anderen Solisten unterscheidet sich wenig von der Arbeit mit einem Orchester, wie ich sie oben beschrieben habe. Wir müssen uns auf eine gemeinsame Basis einigen, die sich – hoffentlich – auf sehr natürliche Weise ergibt, indem wir während der Proben auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Der eine lässt sich vom anderen inspirieren und wir präsentieren etwas Anderes, Frisches, wobei jeder von uns seine eigene Perspektive auf ein bestimmtes Werk oder eine Gruppe von Werken einbringt. Was die Programmauswahl angeht, habe ich Julia Fischer ganz die Führung überlassen, da ich als Pianist ja nicht der Spezialist für Violinrepertoire bin. Wir haben Werke verschiedener Epochen und Komponisten erwogen und uns gemeinsam für das Programm entschieden, das sich am besten in dem uns zur Verfügung stehenden Zeitrahmen vorbereiten lässt. Für etwas, dass sich für ein erstes Aufeinandertreffen eignet, um eine gemeinsame Sprache und Basis zu finden und diese auch dem Publikum präsentieren zu können.

 Nach welchen Kriterien erstellen Sie die Programme für Ihre Solo-Rezitale? Geht es Ihnen um Kontraste oder mehr um Gemeinsamkeiten der Werke?

 Die Zusammenstellung eines Konzertprogramms ist eine Kunst für sich, die mir sehr am Herzen liegt. Ich mache mir viele Gedanken darüber und bin im Allgemeinen mit den bisherigen Ergebnissen durchaus zufrieden. Abgesehen davon, dass ich natürlich Werke präsentiere, die mir nahestehen, die ich gerne zeigen möchte, die ich aufgenommen habe – all diese Faktoren werden ebenfalls berücksichtigt –, möchte ich das Publikum auf eine Reise mitnehmen. Das ist unglaublich wichtig, wenn man allein auf der Bühne ist. Man muss dem Spannungsbogen der Geschichte, die man erzählt, glauben können. Es ist wie ein Theaterstück mit verschiedenen Akten, die zusammen funktionieren müssen. Es können keine verschiedenen, isolierten Geschichten sein, sondern es muss eine einzige sein, die im Laufe des Abends erzählt wird. Deshalb habe ich mir oft Programme ausgedacht, die man im Nachhinein als thematisch bezeichnen kann, die aber in Wirklichkeit oft aus sehr gegensätzlichen Werken zusammengesetzt sind: Schumanns „Nachtstücke“, Chopins Nocturnes, Ravels „Gaspard de la Nuit und Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ – alles sehr unterschiedliche Werke, aber man kann hier einen roten Faden finden und sie eine ähnliche oder auch unterschiedliche Geschichte erzählen lassen. Eine Geschichte, die etwas zu bieten hat. Mir ist es wichtig, Werke zu präsentieren, die dem Publikum gut bekannt sind. Ich möchte den Hörerinnen und Hörern etwas geben, das sie erkennen, schätzen und genießen können und dazu etwas, das völlig unerwartet ist – etwas, das sie vielleicht noch nicht gehört haben, oder zumindest nicht in diesem Zusammenhang. Ein Werk, das vielleicht nicht das bekannteste ist, aber viel zu bieten hat. Eben nicht nur die Top-Hits der klassischen Musik, sondern auch besondere Werke, die dann sinnvoll in den Kontext eines Soloprogrammes eingebunden sind.
Für mich ist mein Solo-Programm im Rheingau dieses Jahr eine faszinierende Mischung aus Chopins Etüden und Nocturnes. Mein Ziel war dabei, Chopins Nocturnes bestmöglich zu präsentieren. Natürlich könnte ich einfach ein paar der beliebtesten Nocturnes spielen, op. 9 Nr. 2, op. 48 oder op. posth. in cis-moll zum Beispiel. Dann würde ich aber nur einzelne Teile aus diesem großartigen Gesamtwerk herausklauben. Wie kann ich also das Großartige darin präsentieren, ohne das Publikum zu langweilen oder gar einzuschläfern? Chopins Nocturnes sind natürlich alle im Geiste verwandt, sehr ruhig, friedlich, eben Musik der Nacht. Was läge da näher, als sie mit etwas völlig anderem zu kontrastieren? Etwas, das ihnen trotzdem hinsichtlich Tonalität und Fantasie ähnelt? Die Etüden sind natürlich sehr technisch und bekanntlich eine Herausforderung, aber es ist immer noch Chopins Musik. Ich bin der starken Überzeugung, dass es bei Chopin immer um die Musikalität an sich ging. Gleichzeitig bieten die Etüden in diesem Kontext einen unglaublichen Kontrast, der das Endergebnis für uns alle spannend macht.

Sie reisen viel und auch gerne, aber als Pianist können Sie Ihr Instrument nur sehr schwer mitnehmen und sind in der Regel auf die Flügel angewiesen, die sie vorfinden. Was sind dabei die großen Herausforderungen? Wie stellt man sich immer wieder auf neue Instrumente ein?

 Die Begegnung mit einem anderen Instrument in jedem Konzertsaal ist eine der vielen Herausforderungen, denen wir uns als Musiker, in diesem speziellen Fall als Pianisten, stellen müssen. Aber wenn man dabei erfolgreich sein will, muss man die Herausforderung auf den Kopf stellen und sie zu etwas machen, das einem Spaß macht. Jeder Saal hat ohnehin einen anderen Klang, seinen eigenen Geist, sozusagen; der Flügel ist nur ein weiteres Element. Selbst wenn ich mein eigenes Instrument hätte, wüsste ich immer noch nicht, wie der Saal klingt.
Natürlich bin ich manchmal nicht in der Lage, die klanglichen Dinge zu tun, die ich mir erträumt oder vorgestellt habe. Auch ist nicht jeder Flügel nach meinem Geschmack vorbereitet – ich will gar nicht sagen, dass er nicht gut vorbereitet wäre, manchmal passt er nur nicht in meine Klangvorstellung. Aber wenn ich mich darauf einlasse, habe ich nicht das Gefühl, dass ich Kompromisse eingehe. Ich habe eher das Gefühl, dass ich mich mit dem Instrument anfreunde und die Vorzüge nutze, die es zu bieten hat. Und das wirft wiederum ein anderes Licht auf die Musik.
Ich spreche hier von Konzerten, bei einer Aufnahme ist das natürlich eine ganz andere Sache. Dann möchte ich einen Flügel haben, der absolut meiner Vorstellung entspricht, eine Art utopisches Instrument, mit einer Farbvielfalt, die mich meine Vision bis ins Letzte gestalten lässt. Aber in einem Konzertsaal, an dem Abend, an dem ich für das Publikum vor Ort spiele, bin ich immer in der Lage, etwas aus dem Flügel herauszuholen. Manchmal ist es eine unglaubliche Herausforderung. Manchmal ist es auch entmutigend, weil man das Gefühl hat, dass nichts funktioniert, aber das muss man als Pianist überwinden. Ich glaube sogar, man schränkt sich selbst ein, wenn man mit seinem eigenen Instrument reist, denn dieses Instrument kann von einem Ort zum anderen so unterschiedlich klingen, dass es nicht unbedingt ein Vorteil ist. Manchmal ist es am besten, denjenigen zu vertrauen, die sich am besten auskennen: Den Stimmern vor Ort, die diesen Flügel in diesem Saal bereits ihr ganzes Berufsleben für verschiedene Pianisten vorbereiten. Sie wissen, was im Saal funktioniert und was nicht. Da kann ich den Stimmern vertrauen. Und selbst wenn es mal Probleme gibt, habe ich trotzdem Mittel, den Konzertbesuchern einen unvergesslichen Abend zu bereiten.
 

Sie haben Ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht. Ist die Musik auch im Alltag Ihr Ausgleich oder gibt es andere Aktivitäten, die Ihnen Ausgleich verschaffen?

 Das würde ich so gar nicht sagen. Ich denke, es gibt noch viele andere Seiten meines Wesens und meiner Persönlichkeit, die gar nichts damit zu tun haben, dass ich auf der Bühne stehe. Ich liebe das, was ich tue, wenn ich auf der Bühne bin, und ich liebe es, Musik mit anderen zu teilen, aber es definiert mich sicherlich nicht nur als Mensch.

© Ansgar Klostermann
© Christoph Köstlin

In einem Interview haben Sie mal gesagt, Bach sei Ihr Lieblingskomponist? Ist das immer noch so? Wie kommt es dazu und was bedeutet Ihnen seine Musik?

 Es fällt mir immer sehr schwer, Favoriten zu benennen. Eine einzelne Stadt, Farbe, Person, ein Reiseziel … Das gilt natürlich auch für Komponisten. Ich denke, Bach ist die Quintessenz dessen, was ich auch in den Werken anderer Komponisten zeigen möchte, nämlich die Tatsache, dass Einfachheit  – im Sinne von Klarheit – über allem anderen steht. Es geht nicht unbedingt um tiefe Emotionen oder komplizierte virtuose Passagen, sondern um diese Art von Menschlichkeit in der Musik, die Bach in absolutem Übermaß vorweist. Ich versuche, das auch auf die Werke anderer Komponisten anzuwenden, obwohl die Stile natürlich sehr unterschiedlich sind.
Ehrlich gesagt habe ich vermutlich damals nicht gesagt, dass Bach mein Lieblingskomponist ist, aber sicherlich ist er die Grundlage der klassischen Klaviermusik wie wir sie heute kennen. Er hat die Grenzen des Möglichen definiert und andere Komponisten haben dies mit der Zeit und mit ihrem eigenen Genie in sehr unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt.

Dieses Jahr steht der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy im Fokus. Sie haben bereits Werke von ihm auf CD eingespielt. Welche Bedeutung hat Mendelssohn für Sie?

Mendelsohns Musik ist unglaublich. Er hatte die Fähigkeit, gleichzeitig ätherische Leichtigkeit und ein Gefühl von … ich würde sagen Sinn, von Zielstrebigkeit zu vermitteln. Es ist sehr schwer, Musik in Worten zu beschreiben, aber Mendelssohn wurde und wird immer noch oft als unbeschwert, fröhlich, heiter abgetan – natürlich ist seine Musik das auch, aber warum muss das etwas Negatives sein? Ich habe seine beiden Konzerte und einige seiner Solowerke aufgenommen und sie bieten daneben auch so viel Dunkelheit, so viel Temperament, eine wunderbare, ihm ganz eigene Melodieführung. Er hatte seinen eigenen Stil, und er hatte auch eine einzigartige Weise, begleitende Instrumente einzusetzen, sekundär aber nie zu weit im Hintergrund. Das ist besonders in seinen Konzerten bemerkbar, in denen das Klavier mit wunderbaren Passagen natürlich das Soloinstrument ist. Passagen, von denen manche sagen würden, dass sie keinem Zweck dienen, aber sie dienen eben dem, was die Quintessenz des Konzertes ausmacht, und das ist eine unglaubliche Leistung. Jeder Komponist, von dem man sagen kann, dass er seine eigene Sprache geschaffen hat, sollte meiner Meinung nach für sein Genie gefeiert werden.

 Wie entscheiden Sie sich, welchen Komponisten und Werken sie sich als nächstes annehmen? Schwerpunkte bis jetzt waren ja Chopin, Beethoven, Mendelssohn und Schumann. Was darf man vielleicht als nächstes erwarten?

Ich versuche immer, meinen Horizont auf sehr ungezwungene und natürliche aber auch uneingeschränkte Weise zu erweitern. Ich gehe in unterschiedliche Richtungen und bleibe dann manchmal länger dort, lerne nicht nur ein Stück, sondern auch andere und wachse mit ihnen, indem ich sie zur Aufführung bringe. Es ist so ähnlich wie beim Reisen. Man denkt vielleicht, man hätte alle Länder der Welt gesehen, aber man hat sie nie wirklich ganz gesehen. Das kann man gar nicht, weil sich die Welt ständig verändert. Und ich denke, das ist bei den Komponisten des Klavierrepertoires ganz ähnlich. Erstens ändert sich die eigene Perspektive ständig und zweitens sind wir mit einem so breiten Schatz an Werken gesegnet, dass ich glaube, dass man im Laufe eines ganzen Lebens nicht einmal das gesamte Repertoire von Chopin lernen könnte. Jedenfalls nicht auf die Art, wie ich es mir vorstelle: Eine so intim vertraute, dass man es sozusagen im Schlaf spielen und im Schlaf verstehen kann. So einen Zustand erreicht man nur ein paar Mal mit ein paar ausgewählten Stücken, aber das ist natürlich der Maßstab.
Das nächste große Projekt ist Prokofjew: Seine Konzerte sind eine ganz neue Sprache für mich, die ich im Moment lebe und ich habe vor, sie noch einige Zeit zu leben.

 

Kompositionen sind oft eng mit dem biographischen Hintergrund des Komponisten verbunden. Was für eine Rolle spielen für Sie bei der Interpretation die Entstehungsgeschichte und die biographischen und kompositorischen Hintergründe? Wie informieren Sie sich hierzu?

 Ich bin mir nicht sicher, ob ich der Aussage so zustimme. Das wäre so, als würde man sagen, Monets Kunst sei eng mit seiner Biografie verbunden, und das finde ich überhaupt nicht; Monets Kunst spricht einen entweder an oder nicht. Es spielt keine Rolle, wie er sein Leben gelebt hat, wo er geboren wurde und dass er gemeinsam mit anderen Künstlern Teil der impressionistischen Bewegung war. Man braucht den biografischen Kontext nicht. Darum geht es in der Kunst überhaupt nicht, und meiner Meinung nach wird auch viel zu häufig dem Bedürfnis verfallen, die Dinge einordnen zu wollen: Jemand ist zum Beispiel jung, oder deutsch, oder Kanadier oder Pole… Und daraus folgt immer der Versuch, etwas zu erklären. Aber manche Dinge kann man nicht erklären. Es ist nicht wichtig, wo Mozart geboren wurde und was er für ein Leben führte. Natürlich ist das interessant zu wissen, wenn man sich für seine Musik begeistert, das will ich gar nicht bestreiten. Natürlich gibt es auch einige Verbindungen zur Biographie im Werk, einige Schlüsselmomente im Leben, die die Art und Weise, wie jemand geschrieben hat, verändert haben. Aber all diese Kenntnis ist meiner Meinung nach absolut nicht erforderlich, um die Musik als Zuhörer zu verstehen. Nicht einmal, um als Interpret zu wissen, was man tun muss. Man muss sie mit der Seele verstehen! Selbstverständlich anhand der eigenen klassischen Ausbildung und vor dem Hintergrund dessen, was man überhaupt erst einmal braucht, um sie auf einer Bühne aufführen zu dürfen – aber letzten Endes und im Konzertsaal vor 2000 Leuten wird dich das Wissen um die Biographie nicht retten.

Der Leitgedanke des Rheingau Musik Festivals 2022 lautet „Zusammenhalt“. Das denken wir im Festivalsommer 2022 auch auf musikalischer Ebene weiter: Zusammenhalt als die Verbindung, die Musik schaffen kann, der Zusammenhalt zwischen Mitgliedern eines Ensembles, der Zusammenhalt zwischen den Interpretierenden und dem Publikum. Welche Bedeutung hat „Zusammenhalt“ für Sie musikalisch und künstlerisch?

 Wenn ich an Zusammenhang denke, denke ich an eine Einheit. Im musikalischen Kontext drängt sich mir sofort der Gedanke auf, wie sich das auf das Publikum und die Musiker auf der Bühne auswirkt. Ich bin der Meinung, dass zwischen dem Interpreten und dem Publikum keine Barriere existiert. In der Musik sind wir alle zusammen – auch wenn sie nicht für jeden das Gleiche bedeutet. Wir erleben sie als Einheit und doch jeder auf individuelle Weise.
Ich glaube, ich bin schon etwas darauf eingegangen, als ich über die Arbeit mit den Orchestern und Julia Fischer gesprochen habe. Wir reden von Zusammenhalt im Sinne vom gemeinsamen Spielen, gemeinsamem Erschaffen von etwas. Zusammen ist ja das Schlüsselwort für alles.
Um es noch direkter zu sagen: Wenn ich auf der Bühne stehe, will ich nicht beeindrucken, denn wenn man das Publikum mit Virtuosität, Können, Wissen, Kleidung (und das meine ich ganz geschlechtsneutral) oder anderen Dingen beeindruckt, ist man eben nicht zusammen in der Musik, weil man ein Spektakel kreiert. Das ist das Gegenteil von Einheit und Zusammenhalt. Also können wir nur zum Ausgang zurückkehren: zur Einfachheit, Klarheit und Eleganz, in der wir die Musik feiern. Dann sind wir eine Einheit und beweisen auch wahren Zusammenhalt.

© Stefano Galuzzi
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Jan Lisiecki beim Rheingau Musik Festival 2022

20.7. | Mi. 19 Uhr | K 51

Schloss Johannisberg
Fürst von Metternich Konzert-Kubus

Julia Fischer Violine
Jan Lisiecki Klavier

Ludwig van Beethoven: Violinsonate Nr. 3 Es-Dur op. 12,3
Franz Schubert: Violinsonatine Nr. 2 a-Moll D 385a
Robert Schumann: Violinsonate Nr. 2 d-Moll op. 121

28.7. | Do. 20 Uhr | K 69

Kurhaus Wiesbaden
Friedrich-von-Thiersch-Saal

Jan Lisiecki Klavier & Leitung
Chamber Orchestra of Europe

Ludwig van Beethoven:
Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15
Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37

29.7. | Fr. 20 Uhr | K 73

Kurhaus Wiesbaden
Friedrich-von-Thiersch-Saal

Jan Lisiecki Klavier & Leitung
Chamber Orchestra of Europe

Ludwig van Beethoven:
Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58
Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur op. 73

17.8. | Mi. 19 Uhr| K 107

Schloss Johannisberg
Fürst von Metternich Konzert-Kubus

Jan Lisiecki Klavier

Nocturnes und Etüden von Frédéric Chopin

30.8. | Di. 20 Uhr | K 126

Kurhaus Wiesbaden
Friedrich-von-Thiersch-Saal

Jan Lisiecki Klavier & Leitung
Norwegian Chamber Orchestra

Frédéric Chopin:
Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11
Klavierkonzert Nr. 2 f-Moll op. 21