An insgesamt vier Abenden beleuchtet das Rheingau Musik Festival in dieser Saison einen einzigartigen und unendlich reichhaltigen musikalischen Kosmos. Vier „Bachnächte“ zeigen einen Ausschnitt aus dem Schaffen von Johann Sebastian Bach, jenem Komponisten, dessen Kunst oft als die Basis aller Musik gesehen wird.
Manchmal ist es fast bedauerlich, dass wir über Johann Sebastian Bach vergleichsweise wenig wissen. Wie gern würden wir ihn als Menschen, als Familienvater, als Musiker, als unermüdlichen und genialen Komponisten noch tiefgehender erfassen. Doch die nicht-musikalischen Quellen sind eher rar. Gleichzeitig hat er der Nachwelt aber einen so großen Schatz an Musik hinterlassen, dass es schwerfällt, diesen überhaupt nur grob zu überblicken. Doch auch die Entstehungsgeschichten seiner Werke sind nicht immer ganz eindeutig nachzuvollziehen. Nehmen wir als Beispiel die Suiten für Violoncello, sechs aus mehreren Einzelsätzen zusammengestellte Werke, die oft stilisiert modische Hoftänze ihrer Entstehungszeit und der Generation davor vereinigen. Wir wissen nicht verlässlich, warum, für wen und wann Bach sie komponierte. Seine Manuskripte sind nicht erhalten, lediglich einige wenige Abschriften von unterschiedlichen Autoren, eine unter anderem von seiner zweiten Frau Anna Magdalena. Ihre Abschrift gilt heute allgemein als verlässlichste Quelle. Vermutlich entstanden die Werke in Bachs Zeit in Köthen, wo er zwischen 1717 und 1723 am Hofe von Fürst Leopold von Anhalt-Köthen als Kapellmeister und „Director derer Cammer-Musiquen“ engagiert war. Geistliche Musik, Orgelwerke und Kantaten, wie sie beispielsweise später in großem Umfang in Leipzig entstanden, spielten im calvinistischen Köthen keine Rolle. Bach konnte sich somit auf Instrumentalmusik konzentrieren, die vorwiegend zur Unterhaltung dienen sollte.
Macht man sich bewusst, dass es ich bei den sechs Cellosuiten um rund 300 Jahre (!) alte Musik handelt, so ist es faszinierend, dass sie zu den meistgespielten Werken für Cello überhaupt gehören. Ihre Erfolgsgeschichte setzte allerdings viel später ein. Erst lange Zeit nach Bachs Tod erschienen die sechs Suiten im 19. Jahrhundert erstmals im Druck und es dauerte nochmal viele Jahrzehnte, bis der junge Pablo Casals die Erstausgabe in einem Antiquariat entdeckte und so schließlich den Siegeszug der Suiten im öffentlichen Konzertleben einleitete. Als Meilensteine der Celloliteratur gehören sie mittlerweile zum Standardrepertoire jedes Cellisten.
Ähnlich wie in den sechs Cellosuiten reizt Bach auch in den sechs Sonaten und Partiten für Violine solo alle technischen Möglichkeiten des Instruments mit rasanten Läufen, kunstvollen Doppelgriffen und vielfältigen Sätzen aus. Sie entstanden (vermutlich zum Großteil) ebenfalls in seiner Zeit in Köthen, in der er sich allgemein mehr auf „weltliche“ Musik konzentrierte. Der berühmteste Satz ist wohl die gewaltige Chaconne aus der d-Moll-Partita. Sie stellt nicht nur das gesamte bisherige Repertoire für Violine in den Schatten, sondern sie dauert mit rund 14 Minuten so lange wie alle anderen Sätze der Partita zusammen. Mit ihrer enormen Ausdrucksstärke verblüfft sie bei jedem Hören aufs Neue und noch große Komponisten späterer Generationen zogen staunend den Hut. Johannes Brahms beispielsweise fasste seine Gedanken zur Chaconne so zusammen: „Die Chaconne ist mir eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke. Auf ein System für ein kleines Instrument schreibt der Mann eine ganze Welt von tiefsten Gedanken und gewaltigsten Empfindungen. Hätte ich das Stück machen, empfangen können, ich weiß sicher, die übergroße Aufregung und Erschütterung hätten mich verrückt gemacht.“
Im stimmungsvollen Laiendormitorium zeigt der international mehrfach ausgezeichnete Geiger Linus Roth durch seine gefühlvolle und kluge Interpretation, warum diese sechs Werke unzweilhaft eine Gipfel der abendländischen Violinmusik markieren.
Dass Bach in allen Bereichen bis dahin geltende Grenzen sprengte, zeigen auch seine Werke für Tasteninstrumente. „Calvier-Übung“ nannte er schlicht seine 30 Variationen über ein Thema, die heute als „Goldberg-Variationen“ berühmt sind. Der Name geht auf eine Anekdote zurück, die der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel berichtet. Die Variationen waren demnach für den mit der Familie Bach befreundeten Grafen Hermann Carl von Keyserlingk gedacht, in dessen Diensten der Cembalist Johann Gottlieb Goldberg stand. Die Goldberg-Variationen stellen den Spieler nicht nur vor enorme technische Herausforderungen, sondern enthalten gleichzeitig den gesamten Kosmos barocker Musik. Sämtliche Formen der Tanzsuiten, stilisierte Konzertsätze oder Ouvertüren und versteckte Volkslieder – der Reichtum an Stilen ist schier grenzenlos. Und je näher man ins Detail geht, je mehr man die einzelnen Variationen unter die Lupe nimmt, desto mehr staunt man über die enorme Kunstfertigkeit Bachs. Wie kann Musik so durchdacht sein und gleichzeitig so natürlich klingen? Übrigens: Auch von den Goldberg-Variationen existiert kein Manuskript mehr, sie wurden aber noch zu Lebzeiten Bachs gedruckt. Für eine Sensation sorgte schließlich 1975 der Fund von Bachs persönlichem Handexemplar, das er mit zahlreichen Zusätzen und Korrekturen sowie einem Anhang mit 14 Kanons über die ersten acht Noten des Aria-Basses versehen hat.
Der französische Cembalist Jean Rondeau zählt zu den besten Cembalisten weltweit. Am 17. Juli interpretiert er die „Goldberg-Variationen“ im Laiendormitorium von Kloster Eberbach.
Auch für Sologesang bietet das Œuvre Johann Sebastian Bachs eine nahezu unerschöpfliche Fülle an Kompositionen. In seiner Funktion als Kirchenmusiker schrieb Bach zahlreiche geistliche Kantaten für die Sonn- und Feiertage des Kirchenjahres. Seine Kantaten erlangten eine so große Bekanntheit, dass sich schließlich der Begriff der „Bachkantate“ etablierte. Etwa 200 dieser Bachkantaten sind heute noch erhalten. Die mehrsätzigen musikalischen Werke für Chor, Orchester und Vokalsolisten waren für die Aufführung im Gottesdienst oder für festliche Anlässe bestimmt. Von den zahlreichen Kantaten Bachs die besten auszusuchen, grenzt an ein nahezu unmögliches Unterfangen. Doch der junge Bariton Benjamin Appl hat es gewagt. Das Ergebnis ist sein Album „Bach“, das er zusammen mit Concerto Köln aufgenommen und 2018 veröffentlicht hat. Für den ehemaligen Regensburger Domspatzen ist die Musik Bachs ein persönliches Anliegen. Am 24. August ist er mit Arien aus Kantaten und anderen Werken Bachs zu Gast in der Basilika von Kloster Eberbach. Begleitet wird er wieder von Concerto Köln, das seit mehr als 30 Jahren mit seinem unverwechselbaren Klang zu den führenden Ensembles im Bereich der historischen Aufführungspraxis zählt.
Philipp Leibbrandt
Die einzigartige Kulisse von Kloster Eberbach, sei es im Laiendormitorium oder in der monumentalen Basilika, lädt zu diesen vier ganz besonderen Konzerthöhepunkten der diesjährigen Saison ein. Mit von der Partie sind wahre Virtuosen und Ausnahmekünstler ihres Fachs, die die Werke Johann Sebastian Bachs in der Rheingauer Sommerabendstimmung zum Leuchten bringen werden!
K34 | So 10.07.2022 | 18 Uhr
Kloster Eberbach, Laiendormitorium
Sechs Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001–1006
Linus Roth, Violine
K106 | So 14.08.2022 | 19 Uhr
Kloster Eberbach, Laiendormitorium
Suiten für Violoncello Solo IV–VI BWV 1010–1012
Kian Soltani, Violoncello
K50 | So 17.07.2022 | 19 Uhr
Kloster Eberbach, Laiendormitorium
Aria mit 30 Veränderungen BWV 988 „Goldberg-Variationen“
Jean Rondeau, Cembalo
K118 | Mi 24.08.2022 | 20 Uhr
Kloster Eberbach, Basilika
Arien aus den Kantaten
Benjamin Appl, Bariton
Concerto Köln
Evgeny Sviridov, Violine & Leitung