Ein Orchester trifft den Nerv der Zeit

Nachwuchsförderung betreiben. Jugendlichen eine musikalische Bildung ermöglichen. Für Chancengleichheit sorgen. Es klingt so ungemein wichtig und gut, was da im Jahr 2010 in Kolumbien als Stiftungsprojekt zweier Banken für die talentiertesten Musikerinnen und Musiker des Landes zwischen 16 und 24 Jahren etabliert wird. Vielleicht nur ein klitzekleines bisschen trocken? Schnitt. Sommer 2017, Kurhaus Wiesbaden. Die gut 100 junge Musikerinnen und Musiker der Filarmónica Joven de Colombia nehmen auf dem Podium Platz – um das Publikum erst mitzunehmen auf einen sinnlichen Parcours durch lateinamerikanische Rhythmen und es dann mit ihrer bild- und klanggewaltigen Deutung von Strawinskys Skandalstück „Le Sacre du Printemps“ zu begeistern. Überwältigend wird der Abend aber nicht nur wegen seiner Effekte, sondern vor allem, weil spürbar wird: Hier verbindet sich hervorragendes spieltechnisches Niveau mit ansteckender Musizierleidenschaft.

Turnschuhlässigkeit einerseits und unbedingter Musizierwille andererseits: Mit dieser Kombination erobert die Filarmónica Joven de Colombia 2017 auf ihrer ersten Europatournee gleich acht Stationen in Deutschland und Österreich und empfiehlt sich für weitere Aufgaben. Etwa eine große Tournee durch ganz Mittelamerika 2018, gemeinsam mit dem Geiger Joshua Bell. „Tocando fibras“, den Nerv treffen, ist die Tour überschrieben – und genau das gelingt den Musikerinnen und Musikern eigentlich überall, wo sie auftreten. Ein Jahr später sind sie wieder in Deutschland, Österreich und diesmal auch der Schweiz unterwegs, und zwar erneut mit hochkarätigem Musizierpartner: Startenor Rolando Villazón ist mit von der Partie – ein Gleichgesinnter, auch was das Temperament betrifft.

Eine besonders enge Beziehung besteht über all die Jahre zu Andrés Orozco-Estrada, dem  Chefdirigenten des hr-Sinfonieorchesters. Der Kolumbianer versteht sich als Mentor und Begleiter des Orchesters, hat nicht nur die Leitung bei den beiden Europatourneen übernommen, sondern spielt generell als „Director Titular“ eine wichtige Rolle. Und nicht nur er setzt Impulse: Immer wieder sucht die Filarmónica die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Orchestern, die die jungen Musikerinnen und Musiker unterstützen und voranbringen, so etwa in der Vergangenheit bereits das hr-Sinfonieorchester oder das Tonhallenorchester Zürich.

Bis die Paten den letzten Feinschliff vornehmen, liegt allerdings eine Menge Arbeit vor den jungen Talenten. Zunächst einmal heißt es, sich überhaupt für die Teilnahme zu qualifizieren. Es sind nur die Besten aus den verschiedenen Teilen des Landes, die aus den alljährlichen Probespielen ausgewählt werden und sich dann mehrmals im Jahr zu intensiven Arbeitsphasen treffen. Mehr als 450 Musikerinnen und Musiker hat das Orchester bislang auf diese Weise an sich gebunden – und tausend mal so viele in seinen verschiedenen Educationprojekten im ganzen Land erreicht. Und die nächste spannende Aufgabe wartet schon: die dritte Europatournee, die #LaJoven, wie sich das Orchester salopp nennt, auch wieder in den Rheingau führt!